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Eckhard Hammel
Gabriele Uerscheln

Nicht nichts. Blick-Kadenzen im zeichnerischen Werk Herbert Bardenheuers

erschienen in: Bardenheuer Zeichnungen. - Düsseldorf: Galerie Winkelmann, 1992


I.
Ueber das kuehle perspektivische Netzwerk, mit dem im Quattrocento Italiens mathematisch-naturwissenschaftliches Vorgehen auf planer Flaeche die Illusion von Raum erzeugte, wurde das betrachtende Auge einst getroestet durch die Sinnlichkeit von Farben, Figuren und Dingen, die Geschichten erzaehlten. Gold, als "Farbe" der Flaeche und damit des Goettlichen, das den Gesetzen von Raum und Zeit nicht unterworfen ist, musste weichen, damit dreidimensional-iridische Wirklichkeit wiedergewonnen, im Bild beschrieben werden konnte. Nicht mehr laenger war es der passive Betrachter, der den auf ihn gerichteten Blick der frontalansichtig gemalten maiestas domini aus dem Werk erdulden musste, sondern er war es nun, dessen subjektiver Blick sich aktiv auf das Objekt des Bildes richtete. In der Erfahrung des Sehens von Welt im Bild wechselten fortan die Grade der Simulationen von Wirklichkeiten in Bildraeumen ab, mochten es Raumverschiebungen oder -verdichtungen gewesen sein, mochte der Blick mehr der materiellen oder immateriellen Raumebene gelten. Mochten Raeume manieristisch ineinander stuerzen und bis aufs AEusserste gespannte dissonante Weltsichten spiegeln, mochten sie die klassisch gleichgewichtige Standfestigkeit eines sinnstiftenden Ideals suggerieren, so stuerzte doch der betrachtende Blick nie. Der Blick konnte auf der imaginaeren Linie von Subjekt-Objekt und zurueck Balance halten, solange Innen und Aussen des Bildes einander definierten.

II.
Die Zeichnungen zeigen keinen homogenen Raum, sie improvisieren in jeder Perspektive neue Raeume. Der Blick geraet darin an einen skopischen Krisispunkt. Indem heterogene Raeume entstehen und verschwinden, wird der Blick in der Raumsichtung unstet, fahrig. Herbert Bardenheuers Zeichnungen leiten den immer gestalthungrigen Blick in die Irre. Suchend eilt der Tiefenblick wechselweise mikro- und makroskopisierend ueber die Flaeche der Zeichnung hinaus und vor sie zurueck, ohne zur organisierten Gestalt zu finden. Diese Suche bildet verworrene Zeitverhaeltnisse aus: Mit einer Beschleunigungsbewegung muss der Blick haltlos werden, abdriften, will er dem Geschwindigkeitsfluss im Bild folgen. Wider der progredienten Blickbeschleunigung verlaeuft aber instantan eine Verlangsamung. Der Verlangsamung korrespondiert eine Bannung, die den Blick viskos und haftend werden laesst; der Beschleunigung entspricht dessen Fluechtigkeit und Fahrigkeit. Nietzsches Monitum, dass je tiefer wir blickten, desto weniger Sinn wir erkennen wuerden, gilt fuer die raeumlich Blickbewegung von Vergroesserung wie Verkleinerung unabhaengig von der Geschwindigkeit. Blick-Kadenzen, die wie eine zooming-Bewegung funktionieren und die durch eine Flaeche hindurch diffundieren, welche sich ihrerseits gerade dadurch aufloest.

Wir fuegen hier ein, dass die folgenden Aussagen ueber die Abhaengigkeitsverhaeltnisse von Blicken, Sehen und Zeichnung von der Praemisse ausgehen, dass sich Sinnesleistungen und Zeichen in reflektierender/reflexiver Korrespondenz befinden. Es geben naemlich nicht nur die Sinnesleistungen evidentermassen Auskunft ueber die Zeichen, auch in der Umkehrung geben die Zeichen Auskunft ueber die Sinne.
Fraglos erinnern die Linien und Striche auch an neurophysiologische Schematisierungen, die sie gleichwohl nicht darstellen. Die Entwicklung mikro- wie makroskopischer optischer Prothesen nahm ihren Anfang im 16./17. Jahrhundert. Malpigi entdeckte Mitte des 17. Jahrhunderts die Funktion der Kapilargefaesse und sollte damit entscheidend zur Entwicklung der Mikroskopiertechnik in der Anatomie beitragen. Die Mikroskopie, die sich damit sehr bald der naturwissenschaftlichen Erforschung des Menschen zuwandte, entdeckte freilich nicht viel anders als sich zu Systemen schliessende Linien und Striche, die im Rahmen heutiger neurophysiologischer Forschungen wie das reinste Chaos erscheinen. Der anatomische Tiefenblick, der immer auch in kriminalistischer Manier auf Spurensuche ist, findet ausser Oberflaechen, die wieder auf andere Oberflaechen verweisen, nichts besonderes. Ergo: sie findet nichts. Wenn nun aber gilt, dass die Bedingung der Moeglichkeit des Wortes "nichts" innerhalb dieser Aussage darin begruendet liegt, dass das Leben technologisch noch nicht vollstaendig prothetisiert ist, wuerden wir dann nicht mit Recht behaupten, dass die Zeichnungen das Leben selber darstellen? oder mit gemaessigteren Worten: Auskunft geben ueber die Sinnesleistungen?
Die Medien visueller Wahrnehmung sind extern Luft und intern Wasser. Beiden ist gemein, das ihre innere Beweglichkeit erkalten, gefrieren, zum Stillstand kommen kann. (Tatsaechlich laesst sich die Repraesentation von Bewegung auch physikalisch nur mit den Mitteln der Bewegungslosigkeit leisten.) Dergestalt sind die Zeichnungen Herbert Bardenheuers gefrorene Physionomien. Das Auge sieht sich selbst in den seinen Medien zueigenen Zwischenwerten von Dunst und Halbsichtigkeit.

Die Zeichnungen lenken den Blick auf die Oberflaeche gefrorener makro- oder mikrokosmischer Un-Raeume, in denen Gesetze von Raum und Zeit als Fiktion wechselseitiger Projektionen bildhaft gemacht sind. In Arbeiten, in denen keine Schwelle von "Innen" und "Aussen" mehr uebertreten werden muss/kann, Input und Output zusammenfallen und als dieser Zusammenfall unendlich diversifiziert werden, versucht der Blick erfolglos sesshaft zu werden. "Luecken" und "Finten" suggerieren Wege, die unendlich werden oder im Zurueck enden. Schichtenfolgen von hauchzarten Graulasuren, die wie Glasscheiben hinter- oder voreinandergestaffelt erscheinen, erhalten nur deshalb ihre Tonvalenzen, weil sie ineinander geschoben sind oder voneinander wegdriften. Glatt spiegelnde und nur hier und dort von einer Konturlinie produzierte Binnenraeume erscheinen im Moment ihrer Verschiebung fixiert, eingeeist. Hell- und Dunkelvalenzen sind hier kein Weg zur farbperspektivischen Raumschaffung; hier sind sie labile Groessen, die angesichts ihrer Plazierungen Perspektive im woertlichen Sinn bedeuten: Der Blick kann hinter, vor oder zwischen die Farbfelder rutschen, die Schichtenfolgen koennen auch in ihrer Umkehrung wahrgenommen werden. Gleichzeitig haftet der Blick auf der Oberflaeche von Bildelementen, die im reinen Flaechenstil gehalten sind. Malerisch anmutende Verfliessungen von Graulasuren sind unterbrochen von Faeden und Linien, die wie aus Gespinsten herausgeloest wirken. Sie erinnern an die hin und her zuckenden Faeden auf der Projektionsflaeche am Ende oder vor Beginn eines Films, dort, wo nicht nichts mehr oder noch nicht nichts zu sehen ist. Solche Faeden bilden ebensowenig wie Farbverklumpungen einen bildwichtigen Punkt oder einen Mittelpunkt des Bildes aus. Treten solche Elemente auf, dann allein in inflationaeren/deflationaeren Serien.

Um noch einmal auf das Auge zurueckzukommen: Man sieht mit den zwei den Raum generierenden Augen im Blick auf die Flaeche immer einaeugig. Es entsteht also bei der Betrachtung eine Art Schieleffekt, der weder den dreidimensionalen Raum tatsaechlich auszubilden im Stande waere, noch einfach in der Zweidimensionalitaet des Einzelauges zu verweilen vermag. Der Schieleffekt seinerseits verdoppelt wiederum, sodass sich in diesem Perspektiven-crossing-over ein pulsierender Sehbinnenraum erzeugt. Die zwei Augen sehen sich, indem sie sich als ein Auge selbst sehen, als Binnenblick, der keine imaginaere Gestalt findet, also kein Blickaussen reklamieren kann und demzufolge absolut real ist.

Der skopische Krisispunkt besteht in dieser Darstellung des Nichtdarstellbaren, eines Zustands zwischen Stabilitaet und Instabilitaet: der Blick wird - exklusiv innerhalb seiner Binnenverfassung! - attrahiert und ueber die Attraktionsebene hinausgezogen oder aber repulsiv abgestossen. Der im Tiefeneffekt irregeleitete Blick weicht dann seitlich aus, um dort Halt zu suchen, wird jedoch in diesem, seinem vertikalen, horizontalen und diagonalen Schweifen - das entweder irgendwo, von einer Verdichtung blockiert abprallt oder aber seitlich ueber den Zeichnungsrand abdriftet - mitnichten gehalten.

Der Effekt des unruhigen Schweifens vermag sich darin nicht auf die aufklaerende Rundsicht einzustellen. Freilich ist nicht nur die phantasmatische Rundsicht verwehrt, auch jede Art von geometrischer Symmetrie im Vorfeld kommt nicht zustande. In einer Analogie: Die Fraktale sind gleichsam stillgelegt, Selbstgleichheit und Wiederholung sind Kategorien nur insofern sie im Verschwinden begriffen sind.

III.
Indem der Blick an seiner formierenden Produktivitaet, seiner Projektion ins Aussen gehindert wird, rettet sich das Sehen, das dem Blicken nicht subsummiert wird, vor dem imaginaeren Gestaltaufkommen. Das Sehen naemlich zeigt sich insofern befreit vom Blick, als dieser in seinem Gestalthunger immer sprachservil ist. Gestalterkennung verlaeuft ueber die assoziative Verkopplung des praesenten Fremden mit abwesend Bekanntem und ist demnach eine Erinnerungsleistung, also Inbegriff der "Symbolischen Ordnung" der Sprache. Indem nun die Erinnerung nicht zu ihrem Ermoeglichungsgrund, der konstitutiven Ruhe findet, imponiert das Sehen als losgeloest vom Kolonialismus des Sprechens.
Es gibt keine immer sprachgeleitete imperiale Perspektive, die alle sichtbaren Momente zur Organisation des Systems versklaven wuerde. Dadurch hinwiederum ereignet sich gerade der das Sehen beguenstigende Aufschub, der die besagte Krisis zwischen Stabilitaet und Instabilitaet fixiert, und somit die Dynamik hypo- oder hyperkritische Zustandsveraenderungen, also den zeitgenoessischen Inbegriff von Bewegung erkaltet und unbeweglich vorstellt.
Dieser Kollaps der Geschwindigkeit/Bewegung fuehrt zur Bannung von Raum und Zeit in der Leere zwischen Bildblick und Betrachterblick, fixiert und vereist zu einer selbstreferentiellen Digitalisierung in einer Welt ohne Subjekt und Objekt.
Diese Digitalisierung macht zwar die Katastrophe des Blicks klassischer Provenienz aus, stellt aber synchron die Rettung des Sehens dar: Wenn Sprache das zu repraesentieren vermag, was abwesend ist, und die klassische Malerei bis ueber den Kubismus hinaus diesem imperialen Ontologievermoegen Tribut zollt, so bedeutet Digitalisierung nur die differentielle Form von Anwesenheit oder Abwesenheit, ohne irgend hier - insbesondere poetisch - zu indifferenzieren. Gleichsam aleatorisch setzen die Zeichnungen Punkte, Linien, Flaechen und Freiraeume. Die Zeichnungen spielen mit dieser Krisis des Hungerblicks, indem sie in permanenten Verschiebungen Differenzen aufkommen lassen. Es gibt sie nicht die Moeglichkeit des spracheigenen Indifferenzierens von Sein und Nicht-Sein. Alles und nichts in eins erinnernd stellen die Zeichnungen eine Gedaechtnisstruktur dar, die das Gedaechtnis der Sinne selbst vorstellt.


© eckhard hammel
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